18.12.2003, 14:41
Zitat:Schon der erste Satz, "Im Schlamm fing es an, wie so vieles.", zieht den Leser in eine abenteuerliche Lesewelt hinein, aus der er erst Stunden danach wieder auftauchen wird. Der amerikanische Autor Tad Williams, bisher eher einer eingeschworenen Fantasygemeinde bekannt, landet mit seiner bis zum Jahr 2003 geplanten Tetralogie "Otherworld" moeglicherweise ein neues Kultwerk.
Auf nicht weniger als 919 Seiten breitet Williams ein dicht verwobenes Szenario einer Welt aus, wie sie moeglicherweise in fuenf Jahrzehnten Realitaet fuer unsere Kinder sein wird. Das Internet hat sich zum alles beherrschenden globalen Netzwerk weiterentwickelt. Ein grosser Teil der Menschheit, zumindest der, der es sich leisten kann, verbringt Stunden um Stunden in den Tiefen der Computersimulationen und virtuellen Welten.
Bereits die kleinsten Kinder beschaeftigen sich mit ihren Datenbrillen und -handschuhen mit kuenstlich erzeugten Maerchenwelten, Erwachsene mit raffinierterem Equipment tauchen in aeonen von Vergnuegungszentren nach Las Vegas Art ein. Auch der zehnjaehrige Bruder der suedafrikanischen Hochschuldozentin Renie Sulaweyo hackt sich taeglich ueber die groesste Shopping-Mall der Erde, die Lullaby Lane, als sogenannter Netboy in einem fantasievollen Sim (Simuloiden, elektronischer Stellvertreter) verkleidet in die verbotenen Distrikte des Datennetzes ein. Der Kick, immer neuere und echtere Abenteuer im Netz zu erleben, wird ihm allerdings zum Verhaengnis: Eines Tages kommt er aus der Computerwelt nicht mehr zurueck - er wird mit einem traumatischen Wachkoma in eine Klinik eingeliefert und kann nur noch kuenstlich ernaehrt werden.
Renie, die als Mutterersatz sich fuer ihren Bruder verantwortlich fuehlt, recherchiert Zusammenhaenge heraus. Noch haelt es niemand fuer moeglich, dass dieser Unfall tatsaechlich mit der virtuellen Computerwelt zusammenhaengt. Doch sie und ihr Student !Xabbu, ein suedafrikanischer Minderheitenschueler von den letzten einheimischen Buschmaennern abstammend, begeben sich auf eine nervenzerfetzende Reise in die gigahertzbeschleunigten Myriaden von Bits und Bytes.
Der Autor ist dabei ein wahrer Virtuose: Nur in kleinsten homoeopathischen Dosen verabreicht er dem Leser immer wieder einen weiteren Informationssplitter und stoesst parallel dazu neue Geschichten an, die alle mit dieser Zukunftswelt zu tun haben. Da gibt es Mr. Sellar, der schwer koerperbehindert in einem Armeestuetzpunkt haust, oder den leukaemiekranken, vierzehnjaehrigen Orlando, der als waffenstarrender Krieger Targor in einer mittelalterlichen Drachenwelt-Simulation der beherrschende Starkaempfer mit den meisten Spielpunkten ist, oder Paul Jonas, der zu Beginn des Buches sein Leben in einem englischen Schuetzengraben im Jahr 1914 riskiert.
Vor allem im Fall Jonas ist die Trennung zwischen Realitaet und Simulation nicht mehr genau ermittelbar und immer wieder geraet er in eine neue, noch wunderlichere Virtualitaet, was dem Autor, aber doch zu unrecht, das PR-Label eingebracht hat, er sei der Tolkien des 21. Jahrhunderts.
Der Leser ist staendig nach der Suche fuer ein Motiv all dieser Irrfahrten in all diesen nicht ueberschaubaren Zusammenhaengen, die offensichtlich da sind, aber knapp jenseits des eigenen Vorstellungsvermoegens lauern. Welche Position hat dieser Sellar inne, hat er mit den sich bald zehntausendfach ereignenden Komafaellen von Kindern etwas zu tun? Woran versucht sich Paul Jonas staendig zu erinnern? Wer steckt hinter all diesen Zufaellen. Jedenfalls wird bis zum Ende des ersten Bandes klar, dass eine gigantische Verschwoerung hinter diesem Riesen-Netzwerk steckt, dass Maechtige und Industrielle das planetare wirtschaftliche Kapital von mehreren Jahrzehnten in den Auf- und Ausbau dieser Computerwelt investiert haben, und dass diese Bruderschaft moeglicherweise auf ein Inferno zusteuert, von dem die Menschheit und die Verantwortlichen bisher nichts ahnen.
So endet der erste Band "Die Stadt der goldenen Schatten" damit, dass der Autor ein Team zusammengefuehrt hat, das vielleicht noch die Notbremse ziehen kann - allerdings weiss der Leser immer noch nicht, um welche Gefahr es sich konkret handelt. So war es Aufgabe dieses ersten Bandes allein die Protagonisten und Welten vorzustellen, auch teilweise die Charaktere der Drahtzieher, insgesamt bleibt das Ziel allerdings verborgen, was den Reiz auf die Lektuere bis zum letzten Band, "Meer des silbernen Lichts" erheblich steigert.
Eine absolut gelungenes Urlaubsbuch, fuer das man Zeit am Stueck haben sollte, das den Leser aber sofort verschlingt, weil der Autor gekonnt mit Versatzstuecken von Mythen, aengsten, Ahnungen und Hoffnungen spielt und die Fantasie und die kriminalistische Ader anheizt.
Es gelingt ihm sicherlich eine breitere Leserschicht anzusprechen als aehnliche Werke aus der Science-Fiction-Literatur, z.B. der Flussweltzyklus von P.J. Farmer oder das Heliconia-Epos oder auch die Welten des F.Pohl, einzig der Preis von 4 x 50,-- DM waere ein Grund, der gegen die Lektuere spraeche.
Also die englischen Taschenbuecher waren deutlich billiger. Die "Loesung" der Reihe finde ich etwas unbefriedigend aber insgesamt habe ich lange nicht mehr so spannende Buecher gelesen.